Ein Mann am Ende seines mittleren Alters in abgetragener Kleidung tritt auf den Hof einer Mosterei. In der Hand trägt er einen leeren Krug. Er fragt den ersten Mitarbeiter, den er sieht, ob er etwas Saft bekommen könne. Der Mitarbeiter betrachtet ihn merkwürdig, sagt dann aber sehr freundlich: „Liebend gerne würde ich Ihnen Saft geben, aber wenn der Chef das sieht, könnte ich meinen Job verlieren. Dort drüben im Büro sitzt er. Fragen Sie ihn, und wenn er einverstanden ist, fülle ich Ihnen den Krug auf.“ Der Mann am Ende seines mittleren Alters geht zum Büro, klopft an und als „Herein!“ gerufen wird, geht er ins Büro hinein.
Der Blick des Chefs ist sehr mürrisch und er fragt mit bösem Tonfall: „Was wollen Sie?“ Der Mann trägt sein Anliegen vor. Der Chef lacht nur und fragt „Können Sie bezahlen?“ Der Mann verneint.
„Dann verschwinden Sie, und zwar schnell! Hier gibt es nichts für Landstreicher, sonst rufe ich die Polizei“, sagt der Chef. Doch der Mann rührt sich nicht und fragt: „Weshalb? Hier gibt es doch genügend Saft!“ So geht das Gespräch noch eine Weile weiter, dann greift der Chef zum Telefon und ruft tatsächlich die Polizei. Der Mann ist entsetzt von dieser Wendung. Doch er möchte nicht aufgeben und appelliert an das gute Herz des Chefs, aber da gibt es wohl nur einen Stein an dieser Stelle.
Nach kurzer Zeit trifft die Polizei ein. Wie es aussieht, kennen sich die Polizisten und der Chef gut. Zwei der Polizisten führen den Mann zum Polizeiwagen, legen ihm Handschellen an und stoßen ihn hinein. Der dritte Polizist unterhält sich noch kurz mit dem Chef, der ihm klarmacht, dass er keine Anzeige erstatte, aber dass er möchte, dass diesem Landstreicher klar gemacht werde, dass er hier nie wiederauftauchen solle. Der Polizist nickt. Er weiß was zu tun ist.
Er gibt seinen Kollegen ein entsprechendes Zeichen und die drei fahren mit dem Mann los. Nach ein paar Kilometern fragt der Mann, wohin es gehe – das sei doch nicht die Richtung zur Stadt und zur Polizeistation. Der Polizist neben ihm lacht und meint: „Wir bringen dich weg von hier, denn Landstreicher wollen wir in unserer Stadt nicht haben!“
Als sie dann auf einen Waldweg einbiegen, wird es dem Mann doch etwas mulmig. Auf einer Lichtung wenden sie den Wagen und halten an. Der Mann am Ende seines mittleren Alters wird aus dem Wagen gezerrt und dann schlagen alle drei auf ihn ein. Als er am Boden liegt, gibt es noch ein paar Tritte und die klare Ansage, sie möchten ihn in dieser Gegend nie wieder sehen. Sie nehmen ihm die Handschellen ab, steigen ins Auto und wollen zurückfahren.
Nach ein paar Metern fliegt ein Stein gegen die Heckscheibe. Die Polizisten sind außer sich vor Wut. Sie greifen ihre Schlagstöcke und springen aus dem Wagen. Der Mann steht mitten auf der Lichtung und grinst aus seinem blutverschmierten Gesicht. Die drei stürmen auf ihn zu und holen mit den Schlagstöcken aus.
Der erste Polizist schlägt zu und verfehlt. Der Mann rennt blitzschnell zwischen den Polizisten hindurch auf das Auto zu, springt auf den Kofferraum und mehrmals auf und nieder. Die Polizisten laufen rot an vor Wut und stürmen wieder los. Der Mann springt mit einem Salto über die Polizisten und landet hinter ihnen auf den Füßen. Er dreht sich und greift sich den ersten Polizisten von hinten und schlägt mit seiner Faust auf den unteren Teil von dessen Wirbelsäule, so dass es nur kracht. Der Polizist hört eine leise Stimme in seinem Kopf, die ihm sagt: „Du wirst nie wieder laufen können.“
Die anderen beiden Polizisten drehen sich jetzt um und sehen den ersten auf den Boden fallen. Eine schnelle Bewegung des Mannes und ein Tritt in den Unterleib strecken den zweiten Polizisten nieder. Vor seiner Ohnmacht hört er noch eine Stimme, die ihm sagt: „So, nun wirst du nie Vater werden, es sei denn, du adoptierst ein Kind.“
Der dritte Polizist will jetzt seine Waffe ziehen, doch er ist viel zu langsam. Da ist der Mann schon bei ihm und greift nach den Armen des Polizisten. Ein paar Drehungen und Schläge – beide Arme sind ausgekugelt und an mehreren Stellen gebrochen. Der Polizist bricht zusammen und jammert vor Schmerz.
Der Mann sagte: „Du wirst nie wieder jemanden schlagen. Ich sehe es in deinem Gesicht. Du verstehst nicht, was hier gerade passiert ist. Ich bin kein Mensch, ich bin ein Engel. Ich wurde mit einer Aufgabe hierher geschickt. Wie ich diese erfülle, ist meine Sache. Euch Menschen sollte klar werden, dass wir Engel weder gut noch böse sind. Wir geben nur das zurück, was man uns entgegenbringt – allerdings um ein Vielfaches verstärkt. Bei uns heißt es nicht: Zahn um Zahn, sondern: Zahn um Gebiss. Schenkst du uns Güte, bekommst du mehr zurück. Genauso verhält es sich mit Liebe und Hieben.“
Jetzt lacht der Mann am Ende seines mittleren Altersganz laut und geht zum Polizeiwagen. Über Funk ruft er einen Krankenwagen. „Du schaust immer noch erstaunt. Leider muss ich den Krankenwagen informieren. Wir dürfen keinen Menschen töten, und die anderen beiden brauchen dringend Hilfe.“ Nach diesen Worten löst sich der Engel in Luft auf, zum Entsetzen des Polizisten…
Einige Stunden später sitzt der Chef der Mosterei bei seiner Frau am Krankenbett und erzählt ihr von seinem Tag, so wie er es jeden Tag macht. Er erzählt auch von dem Landstreicher, den er seinen Kumpels von der Polizei übergeben hat. Seine Frau ist außer sich und schimpft ihren Mann aus. „Wie konntest du das machen, er wollte doch nur etwas Saft, und von dem haben wir ja nun wirklich reichlich. Ich hoffe, dass deine feinen Freunde ihm nichts getan haben.“ Der Chef blickt verlegen zu Boden und denkt: „Hätte ich doch nichts gesagt.“ Er wisse doch, wie seine Frau reagiert, sie hat ein viel zu gutes Herz.
Da kommt eine Stimme aus der Ecke des Zimmers: „Es war schon richtig, es zu erzählen.“ Ein Mann am Ende seines mittleren Alters mit immer noch blutverschmiertem Gesicht tritt auf das Krankenbett zu.
Der Chef springt auf und schreit: „Wie kommen Sie hier herein? Ich rufe gleich die Polizei.“ Der Mann grinst: „Ihre drei Freunde sind bereits hier – allerdings als Patienten. Sie werden gerade operiert.“
„Was? Wie?“ fragt der Chef völlig verunsichert. „Wie ist da möglich?“
„Die drei haben mich auf Ihren Wunsch hin zusammengeschlagen, und wie es bei uns Engeln üblich ist, geben wir alles um ein Vielfaches wieder zurück. Womit wir beim eigentlichen Thema wären. Ich bin ein Engel und meine Aufgabe hier ist es, diese gütige Frau zu heilen, für einen Krug Saft hätte ich es getan. Nun, deine Entscheidung war eine andere, deshalb musst du jetzt mit den Konsequenzen leben. Wir Engel erfüllen immer unseren Auftrag, und deshalb werde ich auch deine Frau heilen, indem ich ihre unheilbare Krankheit auf dich übertrage.“
Mit einem Blick auf die Frau meint der Mann: „Dein Mann hat immer gesagt, er würde dir gerne dein Leid abnehmen, damit du dich nicht so quälen musst. Nun wird sein Wunsch in Erfüllung gehen.“ Dann klatscht der Engel dreimal in die Hände und murmelt etwas dazu.
Einen Moment später bricht der Chef unter Schmerzen zusammen und die Frau kann ihr Bett völlig gesund verlassen. Die Frau stürzt als erstes zu ihrem Mann und nimmt ihn ich die Arme. „Mein armer Schatz“, und mit einem bösen Blick zum Engel „Was hast du nur getan?“
Der Engel sagt nur: „Ich habe getan, was ich für richtig halte. Aber du sollst noch etwas Wichtiges wissen. Wenn du ihm Gutes tust, werden seine Schmerzen größer, bist du aber böse zu ihm, nehmen die Schmerzen ab. Die Krankheit kommt jetzt zum Stillstand, aber sein Zustand wird sich nie mehr verbessern, und auch der Tod wird ihn nicht sobald erlösen. Du, liebe Frau, sei gut zu den Menschen, die es verdient haben. Dein Mann gehört nicht dazu.“
Die Frau will etwas erwidern, aber in dem Moment löst sich die Gestalt des Engels in Luft auf.
Und wenn sie nicht gestorben ist, lebt die Frau glücklich bis ans Ende ihrer Tage…